Unter dem Titel "Kempfenhausener
Gespräche" habe ich in den vergangenen fünf Jahren
gemeinsam mit Führungskräften und Mitarbeitern der
(ehemaligen) Bayerischen Hypo-Bank ein Dialog- und
Forschungsprojekt zur Zukunft von Gesellschaft und
Wirtschaft durchgeführt. Kennzeichnend für das Projekt ist
die Zusammenführung von Führungskräften der Wirtschaft
mit Repräsentanten aus Politik, Wissenschaft, Kultur und
Bürgerbewegungen, um intelligente Fragen und konsensfähige
Antworten und Entwicklungsstrategien für die Zukunft zu
erarbeiten. Ein begrüßenswerter Nebeneffekt ist die
Imageprofilierung des veranstaltenden Unternehmens -
insbesondere mit Blick auf die involvierten kritischen
Zielgruppen.
Weitere Besonderheiten des Projekts
sind der Einbezug der Mitarbeiterweiterbildung - jede
Gesprächsrunde wird gemeinsam mit jungen Führungskräften
vorbereitet und mitgestaltet - und seine
"Kundschafterfunktion": die Beiträge der
Referenten und Teilnehmer liefern ein Stück
Zukunftsforschung für das veranstaltende Unternehmen.
Den Zielsetzungen, dem Design und
der Durchführung des Projekts liegt ein bestimmtes
Verständnis von Kultur, Gesellschaft und Wirtschaft und
ihrer (möglichen) Beziehung zugrunde, das im folgenden
erläutert wird.
1. Was ist eigentlich
"Kultur"?
"Je genauer man das Wort
anschaut, umso fremder schaut es zurück". Was
Alexander Kluge einmal über "Deutschland" gesagt
hat, gilt wohl auch für den Begriff "Kultur". Wie
alle wichtigen Begriffe ist er unscharf - und erlaubt gerade
dadurch eine diffuse Inklusion vieler Deutungen und
Perspektiven, aber auch eine Vielzahl möglicher
Präzisierungen.
Im Alltagsbewußtsein weit
verbreitet ist ein Verständnis von "Kultur" als
Eigenschaft von Personen bzw. als Qualität ihrer
Lebensform. So meint man damit die (nicht zweck- oder
berufsbezogene) Bildung der Persönlichkeit: eine
Verfeinerung der Wahrnehmung und Differenzierung des
Urteilsvermögens, die in der (Zeit für) Rezeption und
Bewertung von Kunst, Philosophie und Literatur entstehen und
diese ermöglichen. Außerdem versteht man unter
"Kultur" eine Verfeinerung der sinnlichen
Genüsse, der Sitten, Umgangsformen und eine Kultivierung
tendenziell aller Lebensbereiche - erotische Kultur,
Gesprächs- und Dialogkultur, Eßkultur, Trinkkultur,
Kochkultur, Wohnkultur, Alltagskultur, Fahrkultur usw.
Dieses Verständnis von
"Kultur" hat seinen Ursprung im Feudalismus und in
der Aristokratie. Es verdankt sich - wie Th.W. Adorno es
einmal sinngemäß ausgedrückt hat - einer Distanzierung
von den Zwängen der Natur und der Lebensnot, welche die
Herrschenden durch die (Arbeit der) Beherrschten gewinnen
konnten und die dazu führte, ihre "Kultur" höher
und wertvoller einzustufen als das übrige Leben. Im
Weltverständnis breiter Anteile des Bürgertums, die sich
auch heute noch darum bemühen, die aristokratische
Distanzierung von einer "prosaischen" Welt
nachzuahmen, scheint Kultur die Gesellschaft zu krönen wie
ein Sahnehäubchen. Dies kommt in der immer wieder bemühten
Unterscheidung von Kultur und Zivilisation zum Ausdruck. Die
Zivilisation sei zwar eine große Errungenschaft, sie
verkörpere aber "nur" materiellen und rationalen
Fortschritt, das Eigentliche, was den Menschen auszeichne
und über sich hinaus trage, sei aber die Sphäre des
"Wahren, Schönen, Guten", das Reich des Geistes -
mit einem Wort: die Kultur.
Auch in einer - dem Anspruch nach -
egalitären Gesellschaft bleibt die Differenz "Kultur-haben
oder Nicht-haben" als Möglichkeit der Abgrenzung und
Individualisierung nicht nur erhalten, sondern gewinnt sogar
an Bedeutung. Die "feinen Unterschiede" (Pierre
Bourdieux) bringen Distinktionsgewinn: die Demonstration
kultureller Bildung, von "Geschmack" und
"Stil" ziehen die sozialen Grenzen, entscheiden
über Inklusion und Exklusion in Beziehungsnetzen.
Interessanter ist der Gebrauch des
Begriffs "Kultur" in den Medien, die sich selbst
zur Kultur zählen: hier gibt es um den harten Kern der
Auseinandersetzung mit den Künsten eine
"Grauzone", in der eine zur Zukunft hin offene
Vielzahl von Phänomenen, Ereignissen, Techniken,
Gestaltungen, Lebensformen und Äußerungen usw. unter
"moderner Kultur" (oder "kultureller
Moderne") beschrieben, diskutiert und bewertet werden
können. Die Anschlüsse und die Verständigung darüber
gelingen, gerade weil "Kultur" nicht genau
definiert wird.
Schließlich wird in der
Philosophie und in den Wissenschaften, in der Anthropologie,
Ethnologie und Soziologie, in den Geschichts- und
Kultur(!)wissenschaften darüber gestritten, was Kultur
genau ist - mit dem Ergebnis einer Vielzahl von Abgrenzungen
und mehr oder weniger abstrakten Definitionen. Die
Verknüpfbarkeit von "Kultur" mit (fast)
beliebigen Aspekten der Gesellschaft, wie sie beispielsweise
in Begriffen wie Volkskultur, Stadtkultur, Industriekultur,
Massenkultur, gehobener und Unterhaltungskultur,
Regionalkultur, Nationalkultur, Popkultur, politische Kultur
und Unternehmenskultur zum Ausdruck kommt, legt nahe, Kultur
schlicht als Kultivierung bestimmter Teilaspekte
gesellschaftlicher Praxis zu verstehen. Aber wo verläuft
dann die Grenze zwischen kultivierter und unkultivierter
Praxis? Ist Kultivierung irgendwo mehr als Differenzierung?
2. Kultur als Kreativität der
Gesellschaft
Streng definierbar scheint
"Kultur" nur in Abgrenzung zu "Natur" zu
sein - als weit gefaßter Begriff von KULTUR
(großgeschrieben) zur Bezeichnung für eine die
Menschengattung auszeichnende (durch Gehirn- und
Sprachevolution eröffnete) Lebensform, die sich in und mit
NATUR und auch gegen diese entwickeln kann.
Die soziologische Systemtheorie
würde unterstreichen, daß diese spezifisch menschliche
Lebensform ganz wesentlich durch Sprache und Kommunikation
generiert ist und dafür den Begriff GESELLSCHAFT verwenden.
Ist KULTUR also letztlich ein Synonym für GESELLSCHAFT? Ich
schlage vor, KULTUR und GESELLSCHAFT als komplementäre
Begriffe zu verstehen, die zwei sich ergänzende Aspekte der
Evolution menschlicher Lebensform als einer symbolischen
Ordnung beschreiben: Fluktuation und Gerinnung.
In einer (nur verbildlichend
gemeinten) Analogie zur Komplementarität von Welle und
Teilchen in der Quantenphysik kann man die Fluktuation, das
"Abtasten" von Grenzen und
Entwicklungsmöglichkeiten in den fließenden,
experimentellen (z.B. mimetischen, verbildlichenden,
metaphorischen) Anteilen menschlichen Denkens und
Gestaltens, die kollektiv rituellen bis individuell
spielerischen Grenzüberschreitungen, das Erfühlen und
Erfinden neuer Differenzen als KULTUR bezeichnen, während
die "Gerinnung" zu abgegrenzten Ordnungen, die
Ausdifferenzierung gemeinsamer Abstraktionen und
verbindlicher Handlungslogiken bis hin zu (selbstreferentiellen)
sozialen Systemen mit GESELLSCHAFT beschrieben werden kann.
Diese Balance von Öffnung und
Schließung symbolischer Ordnung, von Experiment und
Konstruktion im Denken und Handeln definiert
KULTUR/GESELLSCHAFT als lernendes System in einer Umwelt.
Sie ermöglicht eine explosive Steigerung der Nutzung von
Umwelt als Ressource und damit eine - im Vergleich zu
biologischen Systemen - beschleunigte Evolution und
Differenzierung. Die verschiedenen KULTUREN/ GESELLSCHAFTEN
auf der Erde lassen sich dann als unterschiedliche
evolutionäre Entwicklungspfade dieser Lebensformen
verstehen. Einem Individuationsprozeß vergleichbar, haben
sie sich als unterschiedliche Gestalten einer (praktischen,
geistigen, sinnlichen) Welterschließung und -konstruktion
herausgebildet.
Im Verlauf der westlichen
Entwicklung von KULTUR/GESELLSCHAFT, mit der europäischen
Aufklärung, insbesondere verflochten mit der Entwicklung
der Wissenschaften, dem Aufstieg des Bürgertums und der
Entstehung politischer Öffentlichkeit wird KULTUR zu einer
Art "Entwicklungsabteilung" von GESELLSCHAFT, die
sich auf ein gedankliches und gestalterisches Abtasten, auf
Irritation, (virtuelle) Destruktion und experimentelle
Ausweitung der Grenzen gesellschaftlicher Ordnung
"spezialisiert". KULTUR wird zum
"Spielraum" der Entfesselung (noch) nicht
systemisch gebundener Rationalitätspotentiale der zunehmend
selbstbewußten Bürger, die sich von traditionalen
Loyalitäten lösen, an etablierten Ordnungen
"reiben" und diese unter Veränderungsdruck
setzen. An diesen Begriff von KULTUR anzuknüpfen und
angesichts des aktuellen Veränderungsbedarfs in unserer
Gesellschaft die kreativen Potentiale der Bürgerrolle zu
(re-) aktivieren ist ein zentrales Anliegen der
Kempfenhausener Gespräche.
3. Die Kultur der modernen
Gesellschaft
"Erst recht halte ich die
Unterscheidung wirtschaftlich/sozial/kulturell für
irreführend. Alles wirtschaftliche Handeln ist soziales
Handeln, daher ist alle Wirtschaft immer auch Vollzug von
Gesellschaft." (Niklas Luhmann, Die Wirtschaft der
Gesellschaft)
Die Bestimmung der (westlichen)
KULTUR als "Kreativität" der (westlichen)
GESELLSCHAFT bietet eine Ausgangsbasis zur Definition von
"Kultur" (kleingeschrieben) als Teil oder genauer
- wie Niklas Luhmann es ausdrückt - als "Vollzug von
Gesellschaft" im Rahmen der modernen, "funktional
differenzierten Gesellschaft". Darunter versteht die
soziologische Systemtheorie - vereinfacht ausgedrückt - den
Tatbestand, daß die Industriegesellschaft im Verlauf der
letzten Jahrhunderte sich in sogenannte Subsysteme
ausdifferenziert hat, die sich auf die Lösung bestimmter
gesellschaftlicher Aufgaben spezialisiert und dabei jeweils
eigene Operationen und "Sprachen" entwickelt
haben, durch die sie sich voneinander abgrenzen und (gerade
deshalb) quasi arbeitsteilig das Funktionieren - den
"Vollzug" - moderner Gesellschaft gewährleisten
können. Wirtschaft, Recht, Politik, Wissenschaft und Kunst
sind Ergebnisse einer evolutionären Ausdifferenzierung
unterschiedlicher Handlungslogiken, die man sich in
vormodernen Gesellschaften/Kulturen als noch komplexhaft
ineinander verwoben vorstellen kann.
Orientiert man sich weiter an der
Systemtheorie, derzufolge die funktionale Ausdifferenzierung
der Gesellschaft (einer fraktalen Musterbildung Ähnlich)
als "Wiederholung der Systembildung in Systemen"
(Niklas Luhmann) begriffen werden kann, so müßte auch die
Kreativität von GESELLSCHAFT sich in der Kreativität der
Verständigungssysteme Wirtschaft, Recht, Politik,
Wissenschaft und Kunst und in der Kreativität des
Alltagslebens wiederfinden.
3.1 Die Kreativität der
Verständigungssysteme
Eingebunden in die
gesellschaftlichen Funktionssysteme, in die (sich selbst
beobachtende) Praxis der Politik und Wirtschaft, der
Wissenschaft, des Rechts und der Kunst bezeichnet
Kreativität eine systemimmanente, d.h. in die Rationalität
des Systems integrierte Elastizität, die immer dann zum
Zuge kommt, wenn die Praxis der bloßen Befolgung von Regeln
- der politischen Machtausübung, des wirtschaftlichen
Handelns, der wissenschaftlichen Forschung, der
Rechtsprechung, der Ästhetischen Gestaltung - an Grenzen
scheitern oder, anders ausgedrückt, "Fälle"
auftreten, die unter die alten Regeln nicht subsumierbar
sind, sondern deren Revision, kreative Erweiterung und
Neufassung erfordern.
Dabei kann man Kreativität als
eine mentale Kompetenz, als Fähigkeit zur
"schöpferischen Zerstörung" (Schumpeter) und
Regelbrechung begreifen, die zur Professionalität (nicht
aller Mitglieder) des "Personals" der Systeme
gehört. Man kann sie aber auch als Fluktuation der
systemspezifischen Konstruktion von Welt, als Möglichkeit
der Veränderung, Verschiebung und Unschärfe von
Bedeutungen in der "Sprache" der Systeme
begreifen. Diese gehorchen einer Grammatik, deren kreative
Potenz vor allem darin besteht, durch Kombination einer
begrenzten Anzahl von Operationen eine unbegrenzte Zahl von
Unterscheidungen erzeugen zu können. Vereinfacht
ausgedrückt: alles auf der Welt kann den
Leitunterscheidungen der Systeme unterworfen werden, kann
beispielsweise im Wirtschaftssystem in einer durch das
Medium Geld gesteuerten Verständigung zu einem (Zahlung
oder Nichtzahlung auslösenden) Angebot, in einer über das
Medium Wahrheit gesteuerten Verständigung des
Wissenschaftssystems zum Gegenstand einer (als wahr oder
unwahr angesehenen) Behauptung und in einem über das Medium
Ästhetik gesteuerten Verständigung in der Kunst zu einem
(als gelungen oder nicht gelungen angesehenen) Artefakt
werden.
Insofern kennzeichnet diese Systeme
die Eigenschaft der "inneren Unendlichkeit":
einmal aus Keimbildungen und Vorstufen "geronnen"
bilden sie voneinander abgrenzbare operative Muster einer
unendlichen Erschließung und Konstruktion von Welt, die
sich von ihren Umwelten abgrenzen, indem sie diese - im
immer wiederholten Durchspielen ihrer Leitorientierungen -
in "Nahrung" für ihren Differenzierungs- und
Wachstumsprozeß verwandeln. Die Systeme bilden ein
abstraktes "Baugerüst" der modernen Gesellschaft,
das mit der Ausdifferenzierung von Rationalitätstypen auch
entsprechende Mentalitäten und professionelle Kompetenzen,
Berufsrollen wie die des Unternehmers, des Wissenschaftlers
oder des Künstlers hervorbringt.
Was deren Kreativität bzw. die
ihrer "Sprache" betrifft, so besteht kein
Unterschied zwischen der Kreativität eines Unternehmers und
eines Politikers, eines Wissenschaftlers und eines
Künstlers, die diffus Neues in wirtschaftliches oder
politisches Handeln, in die Theoriebildung oder in die
Ästhetische Gestaltung integrieren, indem sie hier neue
Unterscheidungen einführen. Diese Entfaltung und
Entfesselung menschlicher Kreativität im Rahmen einer
systemisch differenzierten Praxis, die - im Gegensatz etwa
zu östlichen Kulturen - auf Gestaltung der Außenwelt
gerichtet ist, hat ganz wesentlich zur beschleunigten
Expansion und zum (ambivalenten) "Erfolg"
westlicher Lebensform auf der Erde beigetragen.
Kempfenhausen soll ein Ort sein, wo
diese historisch gewachsenen, unterschiedlichen
Rationalitäten und Kreativitäten unserer Gesellschaft und
der Menschen, die durch sie geprägt sind und sie vertreten,
zu Wort und miteinander in Dialog kommen können, um neue
Unterscheidungen zu evozieren. Deshalb bemühen wir uns,
besonders kreative Repräsentanten - sogenannte
"Querdenker" - zu versammeln. Daß diese häufig
gerade nicht unter den Mächtigsten und Erfolgreichsten zu
finden sind, überrascht nicht und ist Teil der Probleme,
mit deren Analyse wir uns in Kempfenhausen beschäftigen.
3.2 Die Kreativität der modernen
Kunst
Als funktional ausdifferenzierter
"Vollzug von Gesellschaft" hat die künstlerische
Praxis zu einem beeindruckenden quantitativen wie
qualitativen Wachstum ästhetischer Gestaltung und einer
entsprechenden Differenzierung menschlicher Fähigkeiten
geführt. In Formen einer sich zunehmend von der
Alltagspraxis abgrenzenden, sich ausdifferenzierenden und
selbstreferentiellen Gestaltung - in der Musik, der Malerei,
der Skulptur, von Oper, Theater und Literatur - entstehen
qualitativ anspruchsvolle, hochdifferenzierte und
vieldeutige Artefakte, die den unscharfen und zur Zukunft
hin offenen Begriff "Kunst" prägen. Dabei gibt es
fließende Grenzen, beispielsweise zur Architektur, Innen-,
Gartenarchitektur etc., zum Handwerk, zum Design - heute zur
Werbung, zu Fotographie, Film, Internet usw. Dem
korrespondiert eine Entfaltung und Differenzierung
gestalterischer Kompetenzen, die sich mit der Vorstellung
des (genialen) Künstlers verbinden.
In der Verflechtung und
wechselseitigen Verstärkung von qualitativer Gestaltung und
gestalterischer Kompetenz hat sich eine Praxis und
"Logik" des Ästhetischen ausdifferenziert, die
wir - mit Luhmann - als "Kunst der Gesellschaft"
bezeichnen können. Gerade kraft ihrer Gerinnung zu einem
selbstreferentiellen System entwickelt die Kunst die
Eigenschaft der "inneren Unendlichkeit": ein
infiniter Prozeß der ästhetischen Erschließung und
Assimilation von Welt und ihrer Verwandlung in
"Kunst", der nur durch eine Entdifferenzierung der
Gesellschaft (Regression) unterbrochen werden kann. Deshalb
kann heute alles in der Welt (Material für)
"Kunst" und das Spiel mit ihren Grenzen zur
übrigen gesellschaftlichen Praxis zu ihrem faszinierenden
Thema werden.
Die produktive Irritation, die mit
der modernen Kunst verbunden ist, findet ihren Ausdruck in
der Abwehr der Bürger - "Das soll Kunst sein?" -
ebenso wie im Scheitern der Künstler, die Grenzen der Kunst
zu überschreiten, weil alles, was sie tun, von der
Gesellschaft als "Kunst" eingeordnet werden kann.
Der wesentliche Unterschied künsterischer Praxis zu den
anderen Systemen ist nicht ihre Kreativität, sondern ihre
selbsterzeugte (wie auch aufgezwungene) Zwecklosigkeit, wenn
man so will: ihre Funktion der Funktionslosigkeit. Damit
kann Kunst zum "Zentrallabor" einer kulturellen
Moderne werden, die Perspektiven einer Konkretheit und
Vielschichtigkeit des Lebens, der Außen- wie der Innenwelt
eröffnet, welche die Begriffsraster der Systemlogik wie
auch der Alltagsorientierung immer wieder aufbrechen und
relativieren. Aus diesem Grunde haben wir uns immer darum
bemüht, Perspektiven der Kunst und der Künstler in unsere
Arbeit in Kempfenhausen zu integrieren - allerdings bislang
noch mit bescheidenem Erfolg.
3.3 Die Kreativität der Lebenswelt
In den letzten Jahrzehnten hat die
(scheinbar) zwecklose ästhetische Praxis und die darin
angelegte Brechung von Regeln der Wahrnehmung, des Denkens
und des Handelns das Ghetto der Kunst verlassen und wurde
zunehmend zu einem Bauelement in der Gestaltung des
Alltagslebens und des Selbstverständnisses, insbesondere
der jungen Generationen. In der sozialen Lebenswelt kann
ästhetische Kreativität besonders dann zum Zuge kommen,
wenn Menschen sich intensiv mit Veränderungen, mit dem
Unbekannten in ihrer Umwelt und mit der Fremdheit ihrer
Mitmenschen auseinandersetzen müssen. Pluralisierung und
Individualisierung der sozialen Lebenswelt, die Eröffnung
von immer mehr Optionen und Varianten des Fühlens, Denkens,
Bewertens und Handelns und ihre beschleunigte und
verdichtete Konfrontation in städtischen Lebensräumen
lassen, insbesondere bei jungen Menschen, die sich mehr
darauf einlassen als ältere, eine neuartige Ästhetik des
sozialen Handelns entstehen: Empathie, spontane
Gestaltwahrnehmung, körperliche - gestisch, mimetisch,
verbildlichende - Verständigung, spielerischer Umgang mit
Rollen etc. (Wo das nicht gelingt, entsteht das Gegenteil,
nämlich Gewalt und Ausgrenzung.)
Zugespitzt formuliert: gerade weil
die Funktion der ästhetischen Praxis die Distanzierung von
Funktionen ist, kann sie in eine Art "Lebenskunst"
übergehen, die ein fluktuierendes experimentelles Verhalten
pflegt und ihren Ausdruck in post-traditionalen
Moralvorstellungen, in einer konventionssprengenden
Sensibilität, in neuen Formen expressiver, ästhetischer
Selbstdarstellung findet.
In jedem jungen Menschen begegnet
uns eine noch nicht systemisch gebundene Kreativität: die
Fähigkeit, die Menschen anders wahrzunehmen und die Welt
anders zu denken als sie ist, ihre etablierten Ordnungen und
Regeln in Frage zu stellen. "Es gibt nichts
traurigeres, als zu sehen, wie aus einem offenen jungen
Menschen ein ganz normaler Erwachsener wird" (Robert
Musil). Deshalb haben wir uns immer besonders darum bemüht,
sie vorher nach Kempfenhausen einzuladen - und mit Spannung
beobachtet, wie jugendlicher Anarchismus und der neu
erwachte Anarchismus intelligenter "Senioren" sich
gegenseitig inspirieren.
3.4 Die Kreativität der Wirtschaft
Folgt man weiter dem Ansatz der
Systemtheorie, so kann die Wirtschaft das, was sich in
anderen Systemen der Gesellschaft entwickelt, nicht schlicht
aufnehmen, sondern nur im Rahmen ihrer eigenen Gesetze
assimilieren und als Ressourcen nutzen. Das gilt auch für
die Entwicklungen in der Kunst und in der sozialen
Lebenswelt und ihre Verflechtungen, die hier als
"moderne Kultur" skizziert wurden.
Die Wirtschaft führt uns seit
Jahrzehnten vor, wie sie die moderne Kultur assimiliert. Die
- auf der Grundlage eines verbreiteten materiellen
Wohlstands - gewachsenen Bedürfnisse nach Reichhaltigkeit,
Vielfalt, Intensität und/oder Verfeinerung sinnlichen
Erlebens und die Wünsche nach Abgrenzung, Individualität,
Originalität und Aufmerksamkeit werden durch eine
entsprechende Differenzierung von Märkten, Produkten und
Dienstleistungen befriedigt und verstärkt. Hier assimiliert
die Wirtschaft die Kultur, indem sie diese in ihre Sprache
übersetzt: aus ästhetischer Praxis werden Produkte und
Dienstleistungen, aus Mentalität und Bildung werden Bedarf
und Geschmack, aus der Ästhetisierung der Lebensstile
werden Moden und Konsumstile. Dadurch bekommen Wirtschaft
und Märkte mit Blick auf die Kultur der Gesellschaft nicht
nur eine katalytische, sondern auch generierende Funktion.
Das gilt zunächst in dem direkten Sinn eines beschleunigten
Wachstums entsprechender Märkte und Angebote. Die
sogenannte "Kulturindustrie" (Th.W. Adorno) - und
hier insbesondere Film, Fernsehen und Musik - bilden seit
Jahrzehnten auch die größten Märkte. Insbesondere im
Bereich von Pop- und Jugendkultur kann man sehen, wie die
Wirtschaft die Kultur "abtastet" und neue Trends
in Markt- und Produktdifferenzierungen übersetzt.
Ebenso offensichtlich ist, daß
Kultur die Wirtschaft benutzt, beispielsweise indem
kulturelle Akteure - Künstler, Galeristen,
Ausstellungsmacher, Museumsdirektoren usw. - zunehmend
erfolgreich Kulturmarketing praktizieren. Die
Bewirtschaftung der Kunst, ihre Vermarktung und
Kommerzialisierung, die Durchdringung von Ästhetik und
Psychologie, Mode und Geld, das Auf und Ab in den
Kunstmärkten prägen den "Warencharakter" von
Kunst. Deren Macher und Vertreiber werden zu Anbietern, die
nach neuen Marktnischen suchen.
Darüber hinaus zwingt die
Ästhetisierung des Lebens und der Weltbilder in den
wohlstandsgeprägten Anteilen unserer Gesellschaft
Wirtschaft und Unternehmen zu einer kulturell-ästhetischen
Profilierung. Wer in einer Gesellschaft Geld verdienen will,
in der Kultur (im Sinne von "Stil haben") zu einem
übergreifenden Leitwert geworden ist, muß auch in Kultur
investieren. Das führt dazu, daß sich immer mehr
Unternehmen quasi "von Kopf bis Fuß·" stilvoll,
also in Kultur kleiden: vom Design der Produkte und
Dienstleistungen über die symbolische Aufladung von Marken
durch entsprechende "Werbewelten" und die
Profilierung der Unternehmenspersönlichkeit ("the
company behind the product"), durch Architektur und
Kunst bis hin zum Kultursponsoring, das Abstrahleffekte der
(Massen-) Kultur für das Unternehmensimage nutzen möchte.
Die damit erzielte Aufmerksamkeit in einer Ästhetisch
sensibilisierten Gesellschaft wird für immer mehr
Unternehmen unverzichtbar, um gesellschaftlich akzeptiert zu
werden und für Kunden wie Mitarbeiter attraktiv zu sein.
Dem korrespondiert eine wachsende Geschicklichkeit
kultureller Akteure, die Profilierungswünsche der
Wirtschaft durch entsprechende Sponsoringangebote zu nutzen.
Angesichts knapper Staatskassen bekommt das Bemühen von
Museumsdirektoren und Kulturveranstaltern um Sponsoren und
Mäzene seinerseits den Charakter eines wirtschaftlichen
Wettbewerbs.
Von der kulturellen
"Einkleidung" gibt es gleitende Übergänge zur
inneren Verfassung von Unternehmen, die ihren Ausdruck
findet in Begriffen wie Unternehmens-, Organisations-,
Führungs- und Dialogkultur. In vielen Fällen muß man hier
- angesichts einer ruppigen, durch Hierarchien,
Machtkämpfe, Opportunismus, Intrigen und Mobbing bestimmten
Realität - von kultureller Maskerade sprechen, wo - frei
nach Robert Musil - die eifrige Propaganda von
Unternehmenskultur und -ethik wie der übermäßige Gebrauch
von Seife auf nicht ganz saubere innere Verhältnisse
schließen läßt.
Aber der Übergang zur
Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft erzwingt einen
Wandel der Arbeits- und Organisationsformen, in dessen
Verlauf diese immer mehr die kulturelle Moderne assimilieren
müssen und werden. Denn in der nachindustriellen
Organisation wirtschaftlicher Leistung schrumpfen die
Anteile hierarchisch organisierter (tayloristischer) Arbeit
zugunsten von Möglichkeiten schöpferischer Gestaltung und
Selbstbestimmung, die bislang immer auf die Kunst projiziert
wurden. Im wachsenden Bereich der Wissensarbeit und der
kulturellen Dienstleistungen wird die relativ starre
Produzenten-Konsumenten-Relation der industriellen
Massenproduktion abgelöst durch individualisierte
Maßproduktion und -dienstleistung und den gezielten Ausbau
kultureller (sozialer, ethischer, ästhetischer)
Gemeinsamkeiten und Vernetzungen zwischen Anbietern und
Kunden.
Deshalb wächst der Anteil der
Unternehmen, die sich durch eine kulturelle Modernisierung
ihrer Organisation auszeichnen und sich kontinuierlich
weiter darum bemühen. Über Kunst und Architektur hinaus
beschreiben familien- und frauenfreundliche
Arbeitsorganisation, Dezentralisierung, Teamarbeit und
Eigenverantwortung, flache Hierarchien und dialogische
Steuerung, Transparenz und ethische Legitimation der
Unternehmensziele, Förderung der Kreativität,
Weiterbildung und Weiterentwicklung der Mitarbeiter Aspekte
einer Assimilation der Werte und Lebensentwürfe kultureller
Moderne, die keineswegs uneigennützig, sondern Ausdruck
einer Konvergenz mit Anforderungen wirtschaftlicher
Modernisierung ist, die Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten
und zu steigern.
Die Potentiale eines solchen
Win-win-Spiels zwischen kultureller und wirtschaftlicher
Moderne, zwischen den Bedürfnissen nach individueller
Selbstverwirklichung und den Anforderungen moderner
Arbeitsorganisation sind bei weitem noch nicht
ausgeschöpft. Ähnlich wie in der Politik dominieren in der
Wirtschaft heute noch aufgeblasene ästhetische
Inszenierungen, eine pseudoaristokratische Zelebrierung von
Macht und Potenz (die im Grunde vormodern ist, aber sich
gerne als postmodern versteht) und plumpe Anbiederungen an
die (Jugend-) Kultur, dem bislang nur wenige Ansätze zu
einer mutigen Nutzung der in der Kultur enthaltenen
Potentiale produktiver Irritation, der "schöpferischen
Zerstörung" (Schumpeter) und des Neuentwurfs von
Ordnungen und Regeln gegenüberstehen.
Die wechselseitige Benutzung von
Kultur und Wirtschaft im "Vollzug" von
Gesellschaft, die Kultivierung der Wirtschaft und die
Bewirtschaftung der Kultur bilden ein Faktum, über das sich
zu entrüsten naiv wäre. Die Wirtschaft kann - ihrer Logik
folgend, Geld verdienen zu müssen - für die Kultur (ebenso
wie für die Gesellschaft und die Natur) am meisten tun,
wenn es sich für sie (kurz- oder zumindest mittelfristig)
"lohnt".
Ebenso muß Kultur, um sich selbst
zu erhalten und weiterzuentwickeln, die Wirtschaft und die
Marktgesetze für sich nutzen. Darüber hinaus kann die
Vermarktung von Kultur, also soziale und ästhetische
Fähigkeiten von Menschen in Jobs und Angebote zu
verwandeln, aus kreativen Ideen und Projekten einer
kulturell inspirierten Lebenwelt Produkt- und Marktnischen
zu schaffen zu einer Dematerialisierung der Wirtschaft
beitragen, die auch aus ökologischen Gründen
wünschenswert ist. Deshalb spielen in den
Zukunftsentwürfen, die wir in Kempfenhausen erarbeiten,
immer beide Perspektiven - die Kultivierung der Wirtschaft
und die Bewirtschaftung der Kultur - eine bedeutsame Rolle.
5. Die moderne Gesellschaft: ein
Flechtmuster von Verständigungssystemen
Die Kreativität der
Verständigungssysteme zeigt sich in systemimmanenten Um-
und Neustrukturierungen, die durch den wechselseitigen
Druck, den die Systeme und die soziale Lebenswelt (jeweils
als Umwelten) aufeinander ausüben, ausgelöst werden
können: so können wissenschaftlich-technologische
Neuerungen die Wirtschaft dazu bringen kreativ zu handeln,
z.B. in Gestalt der Erschließung neuer Märkte und durch
die Entwicklung neuer Organisationsformen. Globalisierung
und Strukturwandel der Wirtschaft zwingen die Politik und
das Recht kreativ zu sein: beispielsweise in Gestalt der
Neuorganisation sozialstaatlicher Regeln, in Gestalt des
Arbeits- und Steuerrechts etc. Umgedreht können politische
und rechtliche Vorgaben - z.B. Ökosteuer und Umweltrecht -
die Wirtschaft und Wissenschaft unter Druck setzen kreativ
zu sein.
Unter dem Druck von
Rationalisierung und Arbeitsplatzabbau der Wirtschaft
können in der sozialen Lebenswelt kreative Formen der
Bewältigung und Selbstorganisation gefunden werden: auf
sich gestellt, lassen sich Menschen etwas einfallen und
erkennen die Krise als Chance. Andererseits setzen
Veränderungen in der sozialen Lebenswelt, wie z.B. die
Ästhetisierung von Lebensformen, der Wandel von
Wertorientierungen, Emanzipationsbewegungen Wirtschaft,
Politik und Recht unter Veränderungsdruck usw.
Dieses dynamische
"Flechtmuster" der "kreativen
Verfahrensrationalitäten" moderner Funktionssysteme
begründet den ambivalenten Erfolg der westlichen
Industriegesellschaft. Ambivalent ist der Erfolg, weil der
ihm zugrundeliegende Lernprozeß "nur"
evolutionär sein kann. Zwar lassen sich die
Funktionssysteme jeweils als Verständigungssysteme (mit
bestimmten "Sprachen", d.h. Leitdifferenzierungen,
Steuerungsmedien etc.) beschreiben, da es aber - nach
Luhmann - zwischen ihnen keine Verständigung, sondern nur
einen wechselseitigen Leistungs- und Entwicklungsdruck gibt,
der Irritationen und kreative Selbstveränderungen auslöst,
kann der Gesamtzustand der Gesellschaft als Emergenz dieser
Dynamik niemals ein Ergebnis bewußter Gestaltung sein. Das
ist einerseits eine begrüßenswerte Errungenschaft, weil
der evolutionäre "Mix" verschiedener
Rationalitäten eine Widerstandslinie moderner Gesellschaft
gegen Regression in falsche Ganzheitlichkeit, gegen den
Rückfall in totalitäre Strukturen und fundamentalistische
Ideologien bieten kann. Insofern war es uns in Kempfenhausen
immer wichtig, die "Reibung" und das evolutionäre
Mix der verschiedenen Rationalitäten "im Kleinen"
abzubilden.
Andererseits wachsen mit der
Beschleunigung und Globalisierung dieser evolutionären
Dynamik auch die Risiken. Die inzwischen allgemein bekannten
und vieldiskutierten Krisen der demokratischen Steuerung,
der ökologischen Grenzüberschreitung, der sozialen
Polarisierung und der (inter-) kulturellen Konflikte sowie
ihre mögliche wechselseitige Verstärkung und Kumulation zu
einem chaotischen Weltzustand lassen sich als
nicht-intendierte Folgen und Folgefolgen dieser
evolutionären Dynamik im Flechtmuster moderner
Industriegesellschaft begreifen. Zugespitzt formuliert: es
ist gerade die in ihren Subsystemen entfesselte und zugleich
gebundene Kreativität, die Vermehrung und Beschleunigung
der Wechselwirkungen zwischen den "Kreationen"
systemisch gebundener Akteure, die in äußerst
unerfreuliche Zustände führen können.
Ließe man beispielsweise der
Kreativität der Wirtschaft und der Märkte völlig ihren
Lauf, ohne sie in vernünftige Entwicklungskorridore zu
lenken, würden diese im kurzfristigen Aufbrauchen ihrer
ökologischen und kulturellen Ressourcen ein
"Wettsägen am eigenen Ast" (Hans Peter Dürr)
veranstalten. Das spiegelt sich beispielsweise in der
gelegentlich erschreckend oberflächlichen Beschwörung von
Kreativität, Innovation und Innovationsfähigkeit in der
Wirtschaft, ohne daß man sich auch nur ansatzweise Gedanken
über die potentielle Destruktivität nicht spezifizierter
Innovation und einer nicht verantwortungsgeleiteten
Innovationsfähigkeit macht. Für letztere gilt, daß sie -
ebenso wie bekanntlich Pünktlichkeit, Selbstdisziplin,
Pflichtbewußtsein u.a. - ohne vernünftige Zielsetzung eine
Sekundärtugend bleibt, mit der man auch ein
Konzentrationslager führen kann.
6. Moderne Kultur oder Ist eine
Verständigung der Verständigungssysteme möglich?
Angesichts dieser Bedrohungen
stellt sich die Frage, ob man sich wirklich mit der Wirkung
partikularer Rationalitäten und einer evolutionären
Perspektive zufrieden geben muß. Könnte es nicht sein,
daß gerade das Bemühen um eine gemeinsame
Selbstbeobachtung der Gesellschaft und eine Modellierung
ihrer evolutionären Entwicklungsdynamik gewisse Spielräume
für eine übergreifende kreative und verantwortungsbewußte
Mitgestaltung eröffnet? Ich halte das für möglich, weil
die systemisch gebundenen Rationalitäten - der Politik, der
Wirtschaft, des Rechts, der Wissenschaft - in
Expertensprachen dokumentiert sind, die prinzipiell in die
Umgangssprache rückübersetzbar sind. Das gilt auch - wenn
auch mit erheblichen Übersetzungsverlusten - für die
Zeichensprachen der Kunst. Oder soziologisch ausgedrückt:
die in den Systemen mehr oder minder professionellen und
kreativen Akteure - z.B. die Manager, die Politiker, die
Wissenschaftler, die Künstler - verbinden ihre
Bürgerrolle, aus der heraus sie ihr professionelles Handeln
kritisch beobachten und verändern können.
Deshalb sollte die Bedeutung von
KULTUR als "Kreativität" der GESELLSCHAFT
aktualisiert werden. Darunter lassen sich alle Prozesse
fassen, welche die "geronnenen" Grenzziehungen
moderner Gesellschaft - der Wahrnehmung, der Mentalitäten,
der Kognitions- und Bewußtseinsformen, der Interaktions-
und Verständigungsformen - überschreiten und attackieren,
ohne Entdifferenzierung und Regression zu provozieren.
KULTUR ist insofern Selbstbeobachtung und kreativer Umgang
einer modernen (immer unvollkommenen) Gesellschaft mit sich
selbst: indem sie die Grenzen ihrer systemisch gebundenen
partikularen Rationalitäten durchlässig macht und die
nicht systemisch gebundenen Kreativitätspotentiale der
Menschen gekonnt entfesselt, hält sie sich entwicklungs-
und zukunftsfähig und kann sich gegen den drohenden
Rückfall in Fundamentalismus schützen. Denn indem
möglichst viele Menschen in ein angstfreies Spiel der
Gesellschaft mit ihren Grenzen einbezogen werden, können
sie eher der Verführung widerstehen, sich angesichts der
Zumutungen partikularer Rationalität fundamentalistischen
Heilslehren auszuliefern, die Pseudoorientierungen
versprechen und eine diskriminierende, menschenverachtende
Politik legitimieren können.
Deshalb muß es heute darum gehen,
gezielt "Spielräume" zu schaffen und auszubauen,
wo "Überschüsse" sich organisieren können, wo
die Fähigkeiten der Menschen, die Welt anders zu fühlen,
zu denken und zu beschreiben sich entfalten und verflechten,
sich an den systemischen Rationalitäten reiben und diese
unter Differenzierungs- und Veränderungsdruck setzen
können. Einen möglichen Weg bietet der Ausbau
"kultureller Öffentlichkeit" und eine damit
verbundene Anreicherung der Bürgerrolle. Unter
"kultureller Öffentlichkeit" verstehe ich eine
möglichst große Vielfalt von Experimentiergemeinschaften
aufgeklärter Bürger, wo in Dialogen, gemeinsamem Denken
und Handeln neue Zukunftsorientierungen und - modelle
entwickelt und erprobt werden, die "auf der Höhe der
Zeit" sind, also die historisch erreichten
Differenzierungen von Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und
Wissenschaft nicht rückwärts gewandt unterlaufen, sondern
durchdringen und in Beziehung setzen können. Die
Kempfenhausener Gespräche sollen dazu einen Beitrag
leisten.
Zum Schluß
Zwar wird die Erfahrung
"erstens kommt es anders und zweitens als man
denkt" durch die Systemtheorie sehr überzeugend
bestätigt. Das heißt aber nicht, daß die kulturelle
Anstrengung, durch eine Verständigung der
Verständigungssysteme zu übergreifenden (und falliblen)
Orientierungen zu kommen, sinnlos wäre. Denn die daraus
entstehenden Versuche einer verantwortungsbewußten
Mitgestaltung von Gesellschaft werden bewirken, daß es
"anders anders" kommt.